23.10.2020 21:21

Tier-Werden

Der Quantensprung, der von unserer Generation, der in dieser Zeit gefordert ist: Eine Koexistenz mit den anderen Lebewesen finden, eine, die nicht auf Ausbeutung und Zerstörung basiert. Ganz praktisch – wie kommen wir zu unserer Nahrung? Wie kann beispielsweise den Pflanzen, von denen wir leben, eine Existenz ermöglicht werden, die ihrer Lebensform entspricht? Dasselbe gilt für die «Tiere», für den Planeten und letztlich für uns selber; denn dies vor allem anderen führt uns die Pandemie vor: Sie zeigt unsere Verletzlichkeit, die Anfälligkeit unserer Wirtschaftssysteme gegenüber unvorhergesehenen, verdrängten Naturereignissen. Sie zeigt die Notwendigkeit, uns den eigentlichen Gegebenheiten schlechterdings anpassen zu müssen oder unterzugehen.

Dabei spielt auch die Frage eine Rolle, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Das Vordringen in wilde Lebensräume, Kontakt mit Tieren und Viren, denen wir sonst nie begegnen würden; Gaias Rache? Vielleicht können wir aus Deleuze/Guattari’s Begriff des Tier-Werdens Lehrreiches ziehen – in einer erneuten Lektüre bin ich auf eine Passage gestoßen, die das Tier-Werden in der Ansteckung mit einem Virus veranschaulicht:

«Anteilnahme oder Vereinigungen sind die wahre Natur, die die Tier- und Pflanzenreiche durchzieht. Vermehrung durch Epidemie, durch Ansteckung hat nichts mit Abstammung durch Vererbung zu tun. (…) Mannigfaltigkeiten mit heterogenen Termen und mit dem Ko-Funktionieren der Ansteckung gehen in bestimmte Gefüge ein, und eben da betreibt der Mensch seine Arten und Weisen des Tier-Werdens. (…) Die Meute ist zugleich Tier-Realität und Realität des Tier-Werdens des Menschen. Die Ansteckung ist zugleich tierhaftes Bevölkern und Ausbreitung des tierhaften Bevölkerns durch den Menschen.» (Deleuze/Guattari 1992)

Durch die Ansteckung mit einem Virus – Covid-19 etwa kann Tiere und Menschen befallen – entsteht eine Zone der Unbestimmtheit oder Ungewissheit, wo es gemeinsame oder ununterscheidbare Züge mit dem Tier gibt, eine Nachbarschaft, in der es unmöglich wird, eine klare Grenze zwischen Menschen und Tieren zu ziehen. Deleuze und Guattari verstehen Koexistenz mit Bergson als ein Aufeinandertreffen von sehr unterschiedlichen

«Dauern, die der unseren über- oder unterlegen sind und die alle miteinander kommunizieren.» (Ebd.)

Koexistenzen, Bündnisse, in der Lebewesen unterschiedlichster Entwicklungsstufen, Tier- und Pflanzenreiche zusammenkommen. Ein

«Block des Werdens, der die Katze und den Pavian erfasst und bei dem das Virus C das Bündnis herstellt.» (Ebd.)

Interessant für meine Installation finde ich die Idee einer Zone der Unbestimmtheit, in der sich die Geräusche unterschiedlicher Lebensformen und Lebensweisen überlagern und eine klangliche Meute, einen Klangbau bilden. Das Aufeinandertreffen solch unterschiedlicher Zeitspannen soll in der Installation erfahr- und untersuchbar werden. Wie beginnt das Gehörte miteinander zu kommunizieren?

Deleuze, G., Guattari, F., Ricke, G., & Rösch, G. (1992). Tausend Plateaus. Berlin: Merve.